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Peter Gerwinski – Artikel

Stundenkilometer oder Kilometer pro Stunde?

14.4.2004

Aufgabenzettel: „Ein PKW fährt auf der Autobahn. Aus dem Seitenfenster sieht man die Markierungsstäbe am Fahrbahnrand im zeitlichen Abstand von genau 1 Sekunde vorbeiziehen. Welche Geschwindigkeit zeigt der Tachometer? (Hinweis: Der räumliche Abstand zwischen den Markierungsstäben beträgt 50m.)“

Schüler (eifrig): „180 Stundenkilometer!“

Lehrer (resigniert): „Das heißt: Kilometer pro Stunde! Wie oft muß ich das denn noch erklären …“

Das heißt: Kilometer pro Stunde!

Natürlich hat der Lehrer Recht: In der mathematischen Sprechweise steht „Stundenkilometer“ ganz eindeutig für „Kilometer mal Stunde“; Geschwindigkeiten werden aber in „Kilometer pro Stunde“ – Weg pro Zeit – gemessen.

Aber wie falsch ist die Sprechweise „Stundenkilometer“ wirklich? Wie kommt es, daß diese Sprechweise so weit verbreitet ist, obwohl die zweifelsfrei korrekte Sprechweise „Kilometer pro Stunde“ eigentlich auch nicht umständlicher ist?

Eine Besonderheit der deutschen Sprache ist, daß man zusammengesetzte Namenwörter (Substantive) praktisch nach Belieben bilden darf:

Die Tür des Hauses = Haustür

Der zweite Wortbestandteil beschreibt, um was es sich handelt, z.B. eine Tür. Der erste Wortbestandteil ist eine nähere Bestimmung dazu: Was für eine Tür?

„Stundenkilometer“ wären demnach spezielle Kilometer, nämlich solche, die sich – in irgendeiner Form – auf eine Stunde beziehen. Dies trifft auf die Geschwindigkeitseinheit „Kilometer pro Stunde“ insofern zu, als daß es sich um eine Beziehung „pro“ – also Division – zwischen Kilometer und Stunde handelt. Es trifft insofern auch wieder nicht zu, als daß es sich nicht um spezielle Kilometer handelt, sondern eben um Kilometer pro Stunde – keine Streckeneinheit, sondern eine Geschwindigkeitseinheit.

Genauso verhält es sich mit „Stundenlohn“ und „Manntag“: Wir schaffen sprachlich eine Beziehung zwischen „Stunde“ und „Lohn“ bzw. zwischen „Mann“ und „Tag“.

Um zu entscheiden, ob die Bezeichnung „Stundenkilometer“ denn nun richtig oder falsch ist, bräuchte die deutsche Sprache eine eindeutige Regel, die etwas über die Art der Beziehung zwischen „Stunde“ und „Kilometer“ bei Bildung eines zusammengesetzten Namenworts aussagt. Eine solche Regel gibt es jedoch nicht: Zwar ist „Stundenlohn“ genauso „Lohn pro Stunde“ (Division), wie „Stundenkilometer“ umgangssprachlich für „Kilometer pro Stunde“ steht, aber bei dem „Manntag“ ist es umgekehrt: Um zu beschreiben, wieviel Arbeit ein Projekt macht, muß man die Anzahl der Leute („Mann“) mit der benötigten Zeit („Tag“) multiplizieren.

Die Sprache erlaubt beides.

Rein sprachlich ist also sowohl die Multiplikation als auch die Division als Beziehung zwischen „Stunde“ und „Kilometer“ zulässig.

In exakten Wissenschaften wie der Mathematik oder der Physik kann man mit derartigen Uneindeutigkeiten natürlich nichts anfangen. Hier hat man zusätzliche Sprachregelungen eingeführt:

Aneinanderfügung bedeutet Multiplikation.
Division wird durch „pro“ ausgedrückt.

In der mathematischen Sprechweise würde demnach ein „Stundenlohn“ für „Lohn mal Stunde“ – und damit für Lohn pro reziproke Zeit stehen. So etwas ergibt Sinn in einer Situation, in der jemand um so mehr Lohn erhält, je schneller er eine Aufgabe erledigt. Ein Stundenlohn von 100 EUR h („Euro mal Stunde“) bedeutet: Wenn die Aufgabe innerhalb von 1 Stunde erledigt wird, gibt es 100 Euro, bei 2 Stunden nur noch 50 Euro, dafür bei einer halben Stunde sogar 200 Euro.

Der Lohn pro Stunde – also das, was man normalerweise mit „Stundenlohn“ bezeichnet – würde in diesem Beispiel stark schwanken. Der Lohn mal Stunde wäre hingegen konstant. Der Auftraggeber könnte sagen: „Ich investiere 100 Eurostunden!“ und meinte damit entweder 100 Euro bei 1 Stunde Wartezeit oder 1 Euro bei 100 Stunden Wartezeit oder 200 Euro bei einer halben Stunde Wartezeit – oder sonst etwas, dessen Produkt 100 EUR h ergibt.

Beim „Manntag“ stimmen umgangssprachliche und mathematische Bedeutung überein: 10 Manntage ist die Menge der Arbeit von 1 Person an 10 Tagen oder die von 2 Personen an 5 Tagen oder die eines Teams von 10 Personen an 1 Tag. Das Produkt ist in allen Fällen 10 mal Person mal Tag.

[Verkehrsschild: 100 km/h]
So wäre es richtig.

„100 Stundenkilometer“ schließlich fährt jemand – mathematisch gesprochen –, der 1 km in 100 h zurücklegt oder 10 km in 10 h oder 100 km in 1 h oder 200 km in 1/2 h.

Da es nur wenige Situationen gibt, in denen die mathematisch richtige Interpretation von „Stundenkilometer“ einen anschaulichen Sinn ergibt, wird die sprachliche Uneindeutigkeit von „Stundenkilometer“ umgangssprachlich immer zugunsten von „Kilometer pro Stunde“ aufgelöst.

Fazit:

Letzteres ist zum Beispiel im Physikunterricht der Fall.

Fast schon beruhigend erscheint angesichts dieser komplizierten Überlegungen die früher weit verbreitete (und inzwischen nicht mehr amtliche) Beschriftung von Verkehrsschildern mit „100 km“. Diese war wenigstens eindeutig falsch.

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