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Peter Gerwinski – Artikel
10.6.–1.8.2004
Ein Vorwurf, mit dem ich mich als Vertreter der freien Software immer wieder konfrontiert sehe, lautet in etwa:
„Euer Erfolg gründet sich darauf, daß alle Beteiligten Idealisten sind. Momentan mag in Eurer heilen Welt ja alles eitel Sonnenschein sein, aber auf Dauer kann Eure Illusion nicht Bestand haben.“
Meine Antwort lautet: Es gibt keine „heile Welt“, aber es gibt ein fehlertolerantes System, das auf Dauer Bestand haben wird.
Es stimmt, daß durch freie Software vieles besser wird. Einige Probleme – z.B. das weltweit aktuelle Wurm-Problem – ließen sich durch den konsequenten Einsatz von freier Software lösen. Es stimmt, daß ich im Umfeld der freien Software einige großartige Menschen kennengelernt habe. Aber selbstverständlich ist auch bei freier Software nicht alles eitel Sonnenschein. Nicht alle Menschen, die sich zu freier Software bekennen, sind zwangsläufig Heilige. Wie überall, gibt es auch hier Scheinheilige, Faulpelze, Ausbeuter, Opportunisten, Streithähne – und ihre Opfer.
Das Besondere ist, daß das System trotzdem funktioniert.
Die Art und Weise, wie freie Software entsteht, wurde von Eric S. Raymond mit einem Bazar verglichen: Zu seinem eigenen Erstaunen hat Raymond festgestellt, daß ein großes, ungeordnetes Team – ein „Bazar“ – von Software-Entwicklern schneller arbeitet und bessere Qualität liefert als ein kleines, streng geordnetes Team – eine „Kathedrale“.
Raymond nennt als Grund für dieses Phänomen die Tatsache, daß in der Software-Entwicklung viele Dinge um so besser funktionieren, je mehr Leute sich unabhängig voneinander damit befassen. Dies gilt insbesondere für das Suchen und Beseitigen von Fehlern – den mit Abstand zeitaufwendigsten Teil der Software-Entwicklung. In der „Kathedrale“ haben nur wenige Entwickler diese Möglichkeit; auf dem „Bazar“ hat sie jeder.
Auf dem Bazar gibt es auch Diebe! |
Nun gibt es auf einem Bazar nicht nur ehrliche Händler und Käufer, sondern eben auch Diebe und Betrüger, Bettler, Schausteller, Taschenspieler und vieles mehr. Sie können einzelnen Händlern und Käufern das Leben schwer machen, aber sie können den Bazar als Ganzes nicht zerstören. Das System ist fehlertolerant.
In einer Kathedrale hingegen haben nur wenige Leute etwas zu sagen. Wenn der oberste Priester korrupt ist, kann ihn ein noch so ehrlicher Kaplan nicht daran hindern, die Gläubigen auszubeuten. Das System steht und fällt mit der Ehrlichkeit und Fähigkeit der Autoritäten.
Das System der freien Software tut im Grunde nichts weiter, als die positiven Beiträge zum Gemeinwohl zu bündeln, die von verschiedenen Menschen geleistet werden. Dies können gute oder schlechte Entwickler, ehrliche oder unehrliche Zeitgenossen sein, die möglicherweise in harter Konkurrenz zueinander stehen. Allein dadurch, daß jeder seiner Tätigkeit nachgeht, leistet er irgendeinen Beitrag zum Gemeinwohl – vielleicht mehr, vielleicht weniger, vielleicht freiwillig, vielleicht versehentlich oder gezwungenermaßen, aber eben irgendeinen positiven Beitrag, der sich mit anderen aufsummiert, während negative „Beiträge“ von irgendwem entfernt werden und dauerhaft keinen Schaden anrichten können.
Bündelung der positiven Beiträge |
Als Beispiel für das Funktionieren dieses Prinzips sei die Wikipedia genannt. In dieses Online-Lexikon kann jedermann hineinschreiben. Wer nun daraus schließt, daß dort ein heilloses Chaos herrschen müßte, kann sich jederzeit selbst von der hohen Qualität der Beiträge überzeugen – und sogar aktiv an der weiteren Verbesserung der Wikipedia mitwirken.
Die spezielle Natur des Wirtschaftsguts „Software“ – Informationen – macht diese Bündelung möglich: Informationen lassen sich dank Computer und Internet ohne nenneswerten Aufwand vervielfältigen und weltweit verbreiten – absolut verlustfrei und in Sekundenschnelle. Man muß es nur erlauben.
Natürlich gibt es auch hier Rückschläge und Verluste: Manches vielversprechende Projekt muß aufgegeben werden, bevor es sich für seine Entwickler rentiert hat. Manche nutzen die Hilfsbereitschaft und/oder Gutgläubigkeit von Idealisten aus, um diese auszunehmen. Manche leisten nichts außer einer hervorragenden Selbstdarstellung und gelangen zu Ansehen und Macht, während diejenigen, die die eigentliche Arbeit leisten, unbekannt bleiben. Aber so bitter das für die jeweils Betroffenen ist: Für die Gesellschaft bleibt der Beitrag erhalten. Dies genügt, um das System funktionsfähig zu halten.
Mit freier Software wird unsere IT-Landschaft zwar nicht zu einer „heilen Welt“, aber doch zu einem funktionsfähigen Ökosystem.
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