Aus meiner Recherche
für Roman und Rollenspiel:
Eine Lanze für die Kirche
Kaum ein Motiv ist für die Klischees vom "finsteren
Mittelalter" so zentral wie das der hexenjagenden,
fortschrittsfeindlichen Kirche. Geht man nach populären
Darstellungen, dann gewinnt man den Eindruck, die Geistlichkeit im
Mittelalter bestand nur aus engstirnigen Fanatikern, blind für
neue Erkenntnisse und erbarmungslos in der Verfolgung und Ermordung
jener, die willkürlich für "schuldig"
erklärt wurden.
Dieses Bild gilt als so selbstverständlich, dass ich bei
meinen Recherchen aus dem Staunen kaum herauskam, was für eine
Kirche mir die Geschichtswissenschaft tatsächlich
präsentierte.
Einen groben Überblick über die Ergebnisse meiner
Recherche habe ich auf Instagram mit meiner Postreihe
Eine Lanze für die Kirche
zu geben versucht. Diese Reihe erwies sich als so erfolgreich, dass
ich sie hiermit auch hier auf meiner Homepage archiviere.
In diesem Sinne: Viel Spaß bei meiner kleinen
Gegenüberstellung von populären Vorurteilen und
historischen Kenntnissen!
Wieviele Fehler stecken in diesem Satz?
"Im Mittelalter ließ die Kirche sogenannte 'weise
Frauen' verfolgen und als Hexen verbrennen."
Werfen wir doch mal einen Blick auf die Quellenlage.
Der Hexenwahn, dem nachweislich mehrere 10000 Menschen zum Opfer
fielen, begann am Ende des 15. Jahrhunderts ... als das Mittelalter
also praktisch schon vorbei war. Der Höhepunkt fiel in die
"aufgeklärte" Zeit vom 16.-18. Jh.
Maßgeblich befeuert wurde er durch die Veröffentlichung
des "Hexenhammers", 1486 verfasst von dem Inquisitor
Heinrich Kramer. Dem Buch vorangestellt ist eine päpstliche
Bulle, in der Kramer beauftragt worden war, Gerüchten
über einen "Hexenkult" nachzugehen.
Allerdings hatte Kramer zu dem Zeitpunkt, als er den Hexenhammer
veröffentlichte, wegen seines Übereifers schon wieder die
offizielle Unterstützung der Kurie verloren. Nur verbreitete
sich das Buch dank des neuen Mediums Buchdruck schneller, als die
Kirche Kramers offiziellen Status dementieren konnte. Hinzu kam,
dass viele lokale Machthaber (auch geistliche) der
Verschwörungstheorie des Hexenwahns selbst anhingen und ihn
gern unterstützten.
Die katholische Kirche als Institution aber hat die Verfolgungen
offiziell stets abgelehnt. Gerade die Inquisition hatte
ausdrückliche Anweisung, sich an den Verfolgungen nicht zu
beteiligen – und hielt sich auch daran.
Was aber ist mit der gezielten Verfolgung 'weiser Frauen'?
Seltsamerweise stößt man auf diese in den Gerichtsakten
des Hexenwahns praktisch gar nicht. Erstmals von ihnen die Rede war
bei deutschen Nationalisten im 19. Jh. Sie verfolgten damit zwei
Ziele: die katholische Kirche als Gegner im Machtkampf zu
diskreditieren und das Erbe der heidnischen Germanen mythisch zu
überhöhen. Die 'weisen Frauen' wurden so zu Bewahrerinnen
verlorenen Wissens der "noblen Vorfahren". Weltweite
Ausbreitung erfuhr dieser Mythos schließlich durch die
NS-Propaganda.
Der obige Satz enthält also drei Fehler:
-
Ein Hexenwahn fand zwar statt, aber nicht im Mittelalter.
-
Treibende Kraft war nicht die Kirche.
-
Er richtete sich nie gezielt gegen 'weise Frauen'.
Es gilt heute als Allgemeinplatz, dass die katholische Kirche das
ganze Mittelalter hindurch Forscher und Erfinder auf dem
Scheiterhaufen verbrannt hätte. Na gut, Hand aufs Herz:
Wieviele könnt ihr nennen?
Ich keinen einzigen. Es wurden durchaus Ketzer wegen
religiöser Ideen verbrannt. Doch fand ich keinen, der wegen
Aussagen in einer empirischen Wissenschaft hingerichtet worden
wäre.
Meine Recherche zeigte mir im Gegenteil eine Kirche, die die
Wissenschaft selbst vorantrieb. So waren z.B. die besten Ärzte
im mittelalterlichen Europa Mönche. Die Quellenlage belegt
einen hohen medizinischen Stand, der auf dem Wissen der Antike
aufbaute.
Im 11. bis 14. Jh. entwickelten die Scholastiker u.a.
naturwissenschaftliche Ansätze der antiken Philosophen weiter.
In der Baukunst überflügelte Europa mit den Kathedralen
sogar den (damals wissenschaftlich führenden) Orient.
Wie aber kam der "forschungsfeindliche" Ruf der Kirche
zustande?
Als Beleg werden gern die sehr viel beeindruckenderen Bauten des
antiken Rom herangezogen. Da im Mittelalter z.B. keine
Aquädukte mehr gebaut wurden, "musste" ja wohl
Wissen aus der Antike verlorengegangen sein.
Doch Wissen allein lässt keine Aquädukte wachsen. Rom
verfügte über eine ausgedehnte Infrastruktur und eine
starke Zentralgewalt. Beides gab es im Mittelalter nicht. Das
nötige Wissen zum Bau solcher Monumente war die ganze Zeit
vorhanden. Es besaß nur niemand die Mittel dazu.
Der größte PR-GAU für die Kirche jedoch war der
Fall Galilei. Allgemein bekannt ist heute, dass er gezwungen wurde,
seine astronomischen Thesen zu widerrufen.
Weniger bekannt ist, dass die Kirche ihn zuvor sogar gefördert
hatte – bis zu seiner Forderung, seine (noch unausgereifte
und ungenaue) Theorie zur alleinigen Lehrmeinung zu erheben. Im
Zuge der Debatte warf er kirchlichen Astronomen vor, die Bibel
nicht verstanden zu haben. Darauf reagierte die Kirche
autoritär und tyrannisch. Der Auslöser war aber
nicht seine naturwissenschaftliche Aussage!
Die Kirche hat fraglos viele Verbrechen begangen. Aber
Unterdrückung der Wissenschaft gehörte nicht dazu.
Der Kirche wird heute gern nachgesagt, sie hätte im
Mittelalter antike Schriften verbrannt und überhaupt alles
getan, um heidnisches Wissen auszulöschen. Was ist an diesem
Vorwurf dran?
Fakt ist: Es wurden "im Namen des Glaubens" heidnische
Aufzeichnungen zerstört. So hatte z.B. während des
Kolonialismus die spanische Krone den Befehl ausgegeben, in ihren
Überseegebieten alle Spuren vorhandener Religionen
auszulöschen, um die Bevölkerung christlich zu
missionieren.
Nur ist die spanische Krone nicht die katholische Kirche, und der
Kolonialismus fand bekanntlich erst nach dem Mittelalter statt. Wie
also steht es mit Bücherverbrennungen während des
Mittelalters?
Tatsächlich wäre es im Mittelalter schwer gefallen, etwas
zum Verbrennen zu finden. Vor dem Buchdruck mit beweglichen Lettern
waren Bücher selten – und stammten überwiegend aus
der Feder christlicher Mönche.
Und christliche Mönche waren es auch, die im Mittelalter ihr
Bestes gaben, Wissen aus der "heidnischen" Antike zu
bewahren. Die Schriften von Aristoteles, Ptolemäus, Vegetius
und Galen wurden in der Kirche als Grundlagen der Wissenschaft hoch
geachtet. Über die antiken Philosophen prägte der
Scholastiker Bernhard von Chartres im 12. Jh. den Satz: "Wir
sind Zwerge auf den Schultern von Riesen." Als mit den
Kreuzzügen weitere Schriften antiker Philosophen aus dem
Orient nach Europa kamen, wurden sie von der Kirche freudig
angenommen.
Auch die Edda als Zusammenfassung der germanischen Mythologie
überdauerte nur, weil sie im 13. Jh. von christlichen
Mönchen aufgeschrieben wurde.
Was das Kolonialzeitalter betrifft, so überstand das
"Popol Vuh" (die heilige Schrift der Maya) nur deshalb
den Befehl der spanischen Krone, weil sich der Dominikanerpriester
Francisco Ximenez darüber hinwegsetzte und eine Abschrift des
Buches fertigte, anstatt es zu vernichten.
Womit sich ein katholischer Geistlicher toleranter gezeigt hatte
als die Maya selbst. Denn das Popol Vuh enthält Hinweise auf
eine ältere Religion, die von den Maya ausgelöscht worden
war.
Bislang haben wir uns in dieser Reihe hauptsächlich mit
Verbrechen befasst, die der Kirche zu unrecht angelastet werden.
Aber unschuldig sein allein ist kein Verdienst (selbst wenn die
Kirche es wäre, was sie trotz allem nicht ist). Hat die Kirche
jemals im positiven Sinne etwas für die Menschen geleistet?
Werfen wir auch in diesem Sinne einen Blick auf die historischen
Fakten:
1. Gesundheits- und Sozialfürsorge. Das ganze Mittelalter
hindurch war die Kirche praktisch die einzige Institution in
Europa, die Spitäler, Armen- und Waisenhäuser betrieb.
Auch wertete die Kirche das Betteln zu einer Dienstleistung auf:
"Du gibst dem Armen, er betet für dich."
2. Bildung. Entgegen anderslautender Klischees lag der Kirche sehr
daran, den Menschen Wissen zu vermitteln. Sie betrieb Schulen und
Universitäten, und zahlreiche Geistliche verfassten
Lehrbücher über alle seit der Antike etablierten
Wissenschaften. Das Bild zu diesem Post z.B. ist eine Illustration
zur Veranschaulichung der Kugelgestalt der Erde aus dem Buch
"L'Image du monde" des Priesters Gautier de Metz (Ausgabe
von 1320).
3. Frauenrechte. Zu heidnischen Zeiten waren in Europa verschiedene
Formen der Ehe üblich, darunter u.a. die Kebsehe (bei der ein
Bauer seine Magd ohne deren Zustimmung zu seiner Frau erklären
konnte) oder die Raubehe (bei der es genügte, eine Frau
geschändet zu haben, um sie zu "besitzen"). Die
Kirche setzte durch, dass nur noch die sogenannte Muntehe legal
gültig war, bei der beide Partner ausdrücklich zustimmen
mussten – das berühmte "Ja, ich will". Damit
war zwar für Frauen immer noch keine Gleichberechtigung
hergestellt, doch sie wurden von mehreren zuvor verbreiteten Formen
der Willkür befreit.
4. Ächtung der Sklaverei. Die christliche Lehre verbot es, mit
Christen als Sklaven zu handeln. Es kam zwar nicht zu ihrer
völligen Abschaffung, doch ging die Sklaverei ab dem
Hochmittelalter in Mitteleuropa stark zurück.
Ob all das genügt, um die Macht der Kirche zu legitimieren,
bleibt Ansichtssache. Doch kann man ihr nicht absprechen, manches
Gutes geleistet zu haben.
Vier Lanzen habe ich in meiner Serie für die Kirche gebrochen,
um sie von Vorwürfen freizusprechen. Heißt das, die
Kirche war in Wirklichkeit immer "gut"?
Nein, beileibe nicht.
Auch wenn sich die Kirche nicht an den großen
Hexenverfolgungen beteiligt und nie systematisch "Fortschritt
unterdrückt" hat: Eine freie theologische
Diskussion war im Mittelalter nicht möglich. Wer sich gegen
die Lehrmeinung des Papstes stellte, riskierte den Scheiterhaufen.
Die Kirche hat zwar viele heidnische Überlieferungen bewahrt,
doch gab es auch jene Kirchenvertreter, die (mit Billigung aus Rom)
bei der Missionierung von Heiden auch deren Sagen als
"Teufelswerk" vernichteten.
Fanatismus kam zwar nur selten vor, doch hat die Kirche ihn
zeitweise gezielt genutzt und geschürt, wenn er ihr gerade in
den Kram passte. Prominentestes Beispiel sind die Kreuzzüge.
Die Angst um das Seelenheil hat die Kirche ganz bewusst befeuert,
um ihre Gläubigen gehorsam zu halten und an ihnen zu
verdienen. So kam es z.B. zu den Exzessen des Ablasshandels.
Und auch wenn die Kirche zu Beginn des Mittelalters mit
Sozialfürsorge, Bildungseinrichtungen, Stärkung von
Frauenrechten und Ächtung der Sklaverei vieles zum Besseren
gewandt hatte, verharrte sie doch danach auf dem erreichten Niveau
und wandelte sich später gegenüber weitergehenden
Verbesserungen sogar zum Hemmschuh.
Das alles ändert aber nichts daran, dass die Kirche
zunächst diese Besserungen durchgesetzt und im Mittelalter
viel Positives für die Menschen geleistet hat. Sie war nicht
nur gut, aber auch nicht nur schlecht. Und Fakt ist, dass viele
populäre Vorwürfe gegen die Kirche auf Legendenbildung
basieren.
In diesem Sinne schließe ich meine Postreihe mit einem Zitat
des Historikers Benjamin Lammertz:
"Ich bin Atheist und stimme mit Freuden zu, dass die
katholische Kirche in ihrer langen Geschichte aus heutiger Sicht
haufenweise Verbrechen begangen hat. Ich bin aber auch der
Ansicht, dass wirklich jeder es verdient hat, nur die Verbrechen
vorgeworfen zu bekommen, die er auch tatsächlich begangen
hat."
|