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Markus Gerwinski: Wissenschaftler

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[Titelgrafik: Eine Lanze für die Kirche]

Aus meiner Recherche
für Roman und Rollenspiel:

Eine Lanze für die Kirche


Kaum ein Motiv ist für die Klischees vom "finsteren Mittelalter" so zentral wie das der hexenjagenden, fortschrittsfeindlichen Kirche. Geht man nach populären Darstellungen, dann gewinnt man den Eindruck, die Geistlichkeit im Mittelalter bestand nur aus engstirnigen Fanatikern, blind für neue Erkenntnisse und erbarmungslos in der Verfolgung und Ermordung jener, die willkürlich für "schuldig" erklärt wurden.

Dieses Bild gilt als so selbstverständlich, dass ich bei meinen Recherchen aus dem Staunen kaum herauskam, was für eine Kirche mir die Geschichtswissenschaft tatsächlich präsentierte.

Einen groben Überblick über die Ergebnisse meiner Recherche habe ich auf Instagram mit meiner Postreihe Eine Lanze für die Kirche zu geben versucht. Diese Reihe erwies sich als so erfolgreich, dass ich sie hiermit auch hier auf meiner Homepage archiviere.

In diesem Sinne: Viel Spaß bei meiner kleinen Gegenüberstellung von populären Vorurteilen und historischen Kenntnissen!


Teil 1: Ein paar Klarstellungen zum Hexenwahn

Wieviele Fehler stecken in diesem Satz?

"Im Mittelalter ließ die Kirche sogenannte 'weise Frauen' verfolgen und als Hexen verbrennen."

Werfen wir doch mal einen Blick auf die Quellenlage.

Der Hexenwahn, dem nachweislich mehrere 10000 Menschen zum Opfer fielen, begann am Ende des 15. Jahrhunderts ... als das Mittelalter also praktisch schon vorbei war. Der Höhepunkt fiel in die "aufgeklärte" Zeit vom 16.-18. Jh.

Maßgeblich befeuert wurde er durch die Veröffentlichung des "Hexenhammers", 1486 verfasst von dem Inquisitor Heinrich Kramer. Dem Buch vorangestellt ist eine päpstliche Bulle, in der Kramer beauftragt worden war, Gerüchten über einen "Hexenkult" nachzugehen.

Allerdings hatte Kramer zu dem Zeitpunkt, als er den Hexenhammer veröffentlichte, wegen seines Übereifers schon wieder die offizielle Unterstützung der Kurie verloren. Nur verbreitete sich das Buch dank des neuen Mediums Buchdruck schneller, als die Kirche Kramers offiziellen Status dementieren konnte. Hinzu kam, dass viele lokale Machthaber (auch geistliche) der Verschwörungstheorie des Hexenwahns selbst anhingen und ihn gern unterstützten.

Die katholische Kirche als Institution aber hat die Verfolgungen offiziell stets abgelehnt. Gerade die Inquisition hatte ausdrückliche Anweisung, sich an den Verfolgungen nicht zu beteiligen – und hielt sich auch daran.

Was aber ist mit der gezielten Verfolgung 'weiser Frauen'?

Seltsamerweise stößt man auf diese in den Gerichtsakten des Hexenwahns praktisch gar nicht. Erstmals von ihnen die Rede war bei deutschen Nationalisten im 19. Jh. Sie verfolgten damit zwei Ziele: die katholische Kirche als Gegner im Machtkampf zu diskreditieren und das Erbe der heidnischen Germanen mythisch zu überhöhen. Die 'weisen Frauen' wurden so zu Bewahrerinnen verlorenen Wissens der "noblen Vorfahren". Weltweite Ausbreitung erfuhr dieser Mythos schließlich durch die NS-Propaganda.

Der obige Satz enthält also drei Fehler:

  1. Ein Hexenwahn fand zwar statt, aber nicht im Mittelalter.
  2. Treibende Kraft war nicht die Kirche.
  3. Er richtete sich nie gezielt gegen 'weise Frauen'.


Teil 2: Die Kirche und die Wissenschaft

Es gilt heute als Allgemeinplatz, dass die katholische Kirche das ganze Mittelalter hindurch Forscher und Erfinder auf dem Scheiterhaufen verbrannt hätte. Na gut, Hand aufs Herz: Wieviele könnt ihr nennen?

Ich keinen einzigen. Es wurden durchaus Ketzer wegen religiöser Ideen verbrannt. Doch fand ich keinen, der wegen Aussagen in einer empirischen Wissenschaft hingerichtet worden wäre.

Meine Recherche zeigte mir im Gegenteil eine Kirche, die die Wissenschaft selbst vorantrieb. So waren z.B. die besten Ärzte im mittelalterlichen Europa Mönche. Die Quellenlage belegt einen hohen medizinischen Stand, der auf dem Wissen der Antike aufbaute.

Im 11. bis 14. Jh. entwickelten die Scholastiker u.a. naturwissenschaftliche Ansätze der antiken Philosophen weiter. In der Baukunst überflügelte Europa mit den Kathedralen sogar den (damals wissenschaftlich führenden) Orient.

Wie aber kam der "forschungsfeindliche" Ruf der Kirche zustande?

Als Beleg werden gern die sehr viel beeindruckenderen Bauten des antiken Rom herangezogen. Da im Mittelalter z.B. keine Aquädukte mehr gebaut wurden, "musste" ja wohl Wissen aus der Antike verlorengegangen sein.

Doch Wissen allein lässt keine Aquädukte wachsen. Rom verfügte über eine ausgedehnte Infrastruktur und eine starke Zentralgewalt. Beides gab es im Mittelalter nicht. Das nötige Wissen zum Bau solcher Monumente war die ganze Zeit vorhanden. Es besaß nur niemand die Mittel dazu.

Der größte PR-GAU für die Kirche jedoch war der Fall Galilei. Allgemein bekannt ist heute, dass er gezwungen wurde, seine astronomischen Thesen zu widerrufen.

Weniger bekannt ist, dass die Kirche ihn zuvor sogar gefördert hatte – bis zu seiner Forderung, seine (noch unausgereifte und ungenaue) Theorie zur alleinigen Lehrmeinung zu erheben. Im Zuge der Debatte warf er kirchlichen Astronomen vor, die Bibel nicht verstanden zu haben. Darauf reagierte die Kirche autoritär und tyrannisch. Der Auslöser war aber nicht seine naturwissenschaftliche Aussage!

Die Kirche hat fraglos viele Verbrechen begangen. Aber Unterdrückung der Wissenschaft gehörte nicht dazu.


Teil 3: Die Kirche und die heidnischen Schriften

Der Kirche wird heute gern nachgesagt, sie hätte im Mittelalter antike Schriften verbrannt und überhaupt alles getan, um heidnisches Wissen auszulöschen. Was ist an diesem Vorwurf dran?

Fakt ist: Es wurden "im Namen des Glaubens" heidnische Aufzeichnungen zerstört. So hatte z.B. während des Kolonialismus die spanische Krone den Befehl ausgegeben, in ihren Überseegebieten alle Spuren vorhandener Religionen auszulöschen, um die Bevölkerung christlich zu missionieren.

Nur ist die spanische Krone nicht die katholische Kirche, und der Kolonialismus fand bekanntlich erst nach dem Mittelalter statt. Wie also steht es mit Bücherverbrennungen während des Mittelalters?

Tatsächlich wäre es im Mittelalter schwer gefallen, etwas zum Verbrennen zu finden. Vor dem Buchdruck mit beweglichen Lettern waren Bücher selten – und stammten überwiegend aus der Feder christlicher Mönche.

Und christliche Mönche waren es auch, die im Mittelalter ihr Bestes gaben, Wissen aus der "heidnischen" Antike zu bewahren. Die Schriften von Aristoteles, Ptolemäus, Vegetius und Galen wurden in der Kirche als Grundlagen der Wissenschaft hoch geachtet. Über die antiken Philosophen prägte der Scholastiker Bernhard von Chartres im 12. Jh. den Satz: "Wir sind Zwerge auf den Schultern von Riesen." Als mit den Kreuzzügen weitere Schriften antiker Philosophen aus dem Orient nach Europa kamen, wurden sie von der Kirche freudig angenommen.

Auch die Edda als Zusammenfassung der germanischen Mythologie überdauerte nur, weil sie im 13. Jh. von christlichen Mönchen aufgeschrieben wurde.

Was das Kolonialzeitalter betrifft, so überstand das "Popol Vuh" (die heilige Schrift der Maya) nur deshalb den Befehl der spanischen Krone, weil sich der Dominikanerpriester Francisco Ximenez darüber hinwegsetzte und eine Abschrift des Buches fertigte, anstatt es zu vernichten.

Womit sich ein katholischer Geistlicher toleranter gezeigt hatte als die Maya selbst. Denn das Popol Vuh enthält Hinweise auf eine ältere Religion, die von den Maya ausgelöscht worden war.


Teil 4: Was hat die Kirche je für uns getan?

Bislang haben wir uns in dieser Reihe hauptsächlich mit Verbrechen befasst, die der Kirche zu unrecht angelastet werden. Aber unschuldig sein allein ist kein Verdienst (selbst wenn die Kirche es wäre, was sie trotz allem nicht ist). Hat die Kirche jemals im positiven Sinne etwas für die Menschen geleistet?

Werfen wir auch in diesem Sinne einen Blick auf die historischen Fakten:

1. Gesundheits- und Sozialfürsorge. Das ganze Mittelalter hindurch war die Kirche praktisch die einzige Institution in Europa, die Spitäler, Armen- und Waisenhäuser betrieb. Auch wertete die Kirche das Betteln zu einer Dienstleistung auf: "Du gibst dem Armen, er betet für dich."

2. Bildung. Entgegen anderslautender Klischees lag der Kirche sehr daran, den Menschen Wissen zu vermitteln. Sie betrieb Schulen und Universitäten, und zahlreiche Geistliche verfassten Lehrbücher über alle seit der Antike etablierten Wissenschaften. Das Bild zu diesem Post z.B. ist eine Illustration zur Veranschaulichung der Kugelgestalt der Erde aus dem Buch "L'Image du monde" des Priesters Gautier de Metz (Ausgabe von 1320).

3. Frauenrechte. Zu heidnischen Zeiten waren in Europa verschiedene Formen der Ehe üblich, darunter u.a. die Kebsehe (bei der ein Bauer seine Magd ohne deren Zustimmung zu seiner Frau erklären konnte) oder die Raubehe (bei der es genügte, eine Frau geschändet zu haben, um sie zu "besitzen"). Die Kirche setzte durch, dass nur noch die sogenannte Muntehe legal gültig war, bei der beide Partner ausdrücklich zustimmen mussten – das berühmte "Ja, ich will". Damit war zwar für Frauen immer noch keine Gleichberechtigung hergestellt, doch sie wurden von mehreren zuvor verbreiteten Formen der Willkür befreit.

4. Ächtung der Sklaverei. Die christliche Lehre verbot es, mit Christen als Sklaven zu handeln. Es kam zwar nicht zu ihrer völligen Abschaffung, doch ging die Sklaverei ab dem Hochmittelalter in Mitteleuropa stark zurück.

Ob all das genügt, um die Macht der Kirche zu legitimieren, bleibt Ansichtssache. Doch kann man ihr nicht absprechen, manches Gutes geleistet zu haben.


Teil 5: ... also alles bestens?

Vier Lanzen habe ich in meiner Serie für die Kirche gebrochen, um sie von Vorwürfen freizusprechen. Heißt das, die Kirche war in Wirklichkeit immer "gut"?

Nein, beileibe nicht.

Auch wenn sich die Kirche nicht an den großen Hexenverfolgungen beteiligt und nie systematisch "Fortschritt unterdrückt" hat: Eine freie theologische Diskussion war im Mittelalter nicht möglich. Wer sich gegen die Lehrmeinung des Papstes stellte, riskierte den Scheiterhaufen.

Die Kirche hat zwar viele heidnische Überlieferungen bewahrt, doch gab es auch jene Kirchenvertreter, die (mit Billigung aus Rom) bei der Missionierung von Heiden auch deren Sagen als "Teufelswerk" vernichteten.

Fanatismus kam zwar nur selten vor, doch hat die Kirche ihn zeitweise gezielt genutzt und geschürt, wenn er ihr gerade in den Kram passte. Prominentestes Beispiel sind die Kreuzzüge.

Die Angst um das Seelenheil hat die Kirche ganz bewusst befeuert, um ihre Gläubigen gehorsam zu halten und an ihnen zu verdienen. So kam es z.B. zu den Exzessen des Ablasshandels.

Und auch wenn die Kirche zu Beginn des Mittelalters mit Sozialfürsorge, Bildungseinrichtungen, Stärkung von Frauenrechten und Ächtung der Sklaverei vieles zum Besseren gewandt hatte, verharrte sie doch danach auf dem erreichten Niveau und wandelte sich später gegenüber weitergehenden Verbesserungen sogar zum Hemmschuh.

Das alles ändert aber nichts daran, dass die Kirche zunächst diese Besserungen durchgesetzt und im Mittelalter viel Positives für die Menschen geleistet hat. Sie war nicht nur gut, aber auch nicht nur schlecht. Und Fakt ist, dass viele populäre Vorwürfe gegen die Kirche auf Legendenbildung basieren.

In diesem Sinne schließe ich meine Postreihe mit einem Zitat des Historikers Benjamin Lammertz:

"Ich bin Atheist und stimme mit Freuden zu, dass die katholische Kirche in ihrer langen Geschichte aus heutiger Sicht haufenweise Verbrechen begangen hat. Ich bin aber auch der Ansicht, dass wirklich jeder es verdient hat, nur die Verbrechen vorgeworfen zu bekommen, die er auch tatsächlich begangen hat."


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