Aus meiner Recherche
für Roman und Rollenspiel:
Adel verpflichtet
Ein historischer Überblick
"Adel verpflichtet" –
Dieser Spruch ist heute eine verbreitete Redensart. Sie wird als
moralische, aber nicht verbindliche Aufforderung aufgefasst, wenn
man schon zur Oberschicht gehört, solle man auch was für
das einfache Volk tun. Aber ist das wirklich alles, was sich
dahinter verbirgt?
Im Zuge meiner Recherchen für diverse Projekte bin ich immer
wieder auf ein Motiv gestoßen, das Oligarchie und
Aristokratie voneinander unterscheidet. In einer Oligarchie
beansprucht einfach eine kleine Gruppe die Macht für sich.
Wenn sie sich überhaupt die Mühe macht, eine
Rechtfertigung für diesen Anspruch zu formulieren, bleibt
diese eher schwammig und kann schnell wechseln – ebenso wie
die herrschende Gruppe selbst.
In jeder Staatsform aber, die sich offiziell als Aristokratie
begriff und bezeichnete, hatte der Adel eine klar definierte
Aufgabe, deren Erfüllung überprüfbar war und an der
er vom Volk gemessen wurde.
Am häufigsten in Kulturen rund um den Erdball trifft man den
Kriegeradel an. Die europäischen Ritter, die japanischen
Samurai und die orientalischen Mamluken entstammten
militärischen Traditionen. Von ihnen wurde erwartet, sich als
Kämpfer zu beweisen. Tapferkeit und Kampfstärke waren
Eigenschaften, mit denen die Würde eines Angehörigen
dieser Klassen stand und fiel. Ein Mamluk, Samurai oder Ritter, der
sich den Ruf der Feigheit einhandelte, verlor die Gefolgschaft
seiner Untertanen und den Rückhalt unter seinesgleichen.
Aber dies war nicht die einzige Form von Adel. So war zwar die
Aristokratie des römischen Imperiums eng mit dem Militär
verflochten, wurde aber letztendlich an (klar festgelegten)
Beiträgen zur Infrastruktur Roms gemessen. Und im Inkareich
bestand die Kernaufgabe der Kurakas in der Verhinderung von
Hungersnöten – im kargen Bergland der Anden eine schwere
und verantwortungsvolle Aufgabe.
Im folgenden Artikel möchte ich mehr darüber
erzählen, was Adel in verschiedenen Kulturen ausmachte.
Stichwort: "Adel verpflichtet."
Aus heutiger Sicht mag es seltsam klingen, mit einer
Geschichte über den Adel in einer Republik anzufangen.
Und doch waren die Würdenträger dieser Republik
genau das: Adlige. Das Volk durfte wählen, doch nur
zwischen Abkömmlingen ehrenwerter, alter Familien.
(Anfangs waren dies die Patrizier, doch gesellte sich
später auch ein plebejischer Adel dazu.)
Bis auf gelegentliche Aufsteiger war die Zugehörigkeit
zu dieser Oberschicht erblich. Worin aber bestand die
Aufgabe, die der Adel erfüllte, damit das Volk ihm seine
Macht zugestand?
Die Antwort gibt ein Blick auf den "Cursus Honorum", die
vorgeschriebene Ämterkarriere eines römischen
Würdenträgers. Um überhaupt zu dieser
Laufbahn zugelassen zu werden, musste ein Römer
zunächst in den Legionen gedient haben.
Danach konnte er für die Wahl zum Quästor
kandidieren, anschließend zum Ädilen, zum
Prätor und erst dann zum Konsul (Staatsoberhaupt). Jedes
dieser Ämter war mit spezifischen Aufgaben
verknüpft. Speziell den Ädilen unterstand u.a. der
Unterhalt von Straßen, Aquädukten, Bädern ...
und sie mussten vieles davon aus eigener Tasche finanzieren.
Dass nur Adlige diese Laufbahn einschlagen durften, folgte
somit der Logik: für die Infrastruktur bezahlen sollen
diejenigen, die viel haben.
Die Bürger Roms merkten also unmittelbar am Zustand
ihrer Straßen und Gebäude, ob ein Ädil seine
Arbeit gut gemacht hatte – was nicht ohne Auswirkungen
auf seine Chancen bei der Wahl zum Prätor gewesen sein
dürfte.
Ein römischer Adliger war also sowohl ein Kämpfer
als auch ein Beamter. Welche Rolle aber war aus Sicht des
Volkes entscheidend?
Zwar brachte der Dienst in den Legionen Prestige mit sich,
doch etliche Römer wurden Konsul, ohne sich im Feld
sonderlich hervorgetan zu haben. Dies spricht dafür,
dass die Römer ihren Adel hauptsächlich an seinem
Dienst an der Infrastruktur gemessen haben. Bei aller
Verflechtung mit dem Militär war der römische Adel
also in erster Linie ein Beamtenadel.
Nach Ende des römischen Imperiums dauerte es eine Weile, bis
sich aus den Wirren der Völkerwanderung neue Kulturen erhoben.
Eine davon, das Frankenreich, brachte einen Stand hervor, der in
den kommenden Jahrhunderten Mitteleuropa prägen sollte wie
kein anderer: das Rittertum.
Es waren unruhige Zeiten und um gegen die Nachbarn zu bestehen,
führten die Karolinger ein System der allgemeinen Wehrpflicht
ein. Jeder freie Bauer war zum Waffendienst an seinem Herrn
verpflichtet. War der Bauer reich genug, um sich Streitross und
Rüstung leisten zu können, dann leistete er diesen Dienst
als Panzerreiter. Im Kriegsfall führte er die Bauern seines
Dorfes an, im Frieden durfte er von ihnen Dienste und Abgaben
einfordern – voilà: geboren war der europäische
Feudalherr.
Von seinen Untertanen wurde ein Ritter folglich an seiner Aufgabe
als Krieger und Anführer gemessen. Seine Privilegien
rechtfertigten sich durch Erfüllung der Pflicht, seine Leute
vor äußeren Feinden, Räubern, Dieben und
gelegentlich auch Raubtieren zu schützen. Das Klischee vom
Ritter als "Beschützer der Schwachen" hat also durchaus einen
wahren Kern.
Die mittelalterlichen Ritter wiederum waren meist nur bereit, einem
Anführer zu folgen, der selbst als Ritter zu kämpfen
verstand. So durchzog das Bild des Panzerreiters bald den gesamten
Adel von unten nach oben: Barone, Grafen, Herzöge,
Könige, sie alle mussten im Regelfall den Ritterschlag
erhalten haben, ehe sie in ihr Amt eingesetzt wurden. Der
europäische Adel gründete seinen Herrschaftsanspruch
darauf, die Elite der Kämpfer darzustellen.
Diese Geisteshaltung prägt das Selbstverständnis des
europäischen Adels bis heute. Auch lange nach dem Zeitalter
der Ritterheere wurde von Adligen erwartet, in den Armeen ihrer
Monarchen als Offiziere zu dienen. Noch heute ist es auf unserem
Kontinent üblich, dass Thronfolger zu Berufssoldaten
ausgebildet werden. Der europäische Adel definiert sich ganz
klar als Kämpferadel.
Vor die größten Rätsel meiner Recherche stellte
mich der reichhaltige, komplexe Kulturraum des Islam. Verschmolzen
aus den Traditionen des antiken Persien sowie arabischer und
turkmenischer Stämme, vereint er sehr unterschiedliche
altehrwürdige Herrscherfamilien mit einer lebhaften Dynamik
neu entstehender und vergehender Dynastien.
Vieles deutete darauf hin, dass die Rolle des Adels im
mittelalterlichen Orient die eines Kämpferadels war. Emire und
Beys waren als Provinzgouverneure in erster Linie militärische
Befehlshaber. Es schien eine Adelshierarchie zu geben, die dem
europäischen Feudalsystem ähnelte. Trotzdem gelang es mir
nicht, eine spezifische Pflicht ausfindig zu machen, an deren
Erfüllung die islamische Aristokratie von ihrem Volk gemessen
wurde.
Es dauerte eine Weile, bis ich den Grund dafür erkannte:
Die Aristokratien islamischer Reiche bestanden nicht aus dem
nominellen Adel, sondern aus Sklaven.
Am bekanntesten sind heute die Regimenter der Mamluken und
Janitscharen. Beide setzten sich aus Sklaven zusammen, die von
Kindheit an zu Elitekämpfern ausgebildet wurden. Als
Rückgrat der Heere ihrer Monarchen erlangten sie enormen
Einfluss, wurden zu den wahren Machthabern hinter dem Thron und
gründeten teilweise ihre eigenen Reiche.
Die noblen Emire, Beys und Paschas waren lediglich Statthalter, die
von ihrem Monarchen eingesetzt worden waren. Sie besaßen
keine Souveränität und waren nur ihrem Herrscher
verpflichtet, nicht aber dem Volk.
Mamluken oder Janitscharen hingegen erlangten ihre Position allein
aufgrund ihrer Fähigkeiten als Krieger. Offiziell stand ihnen
keinerlei Macht zu. Um ihren Einfluss zu behaupten, mussten sie
militärische Erfolge vorweisen. Daher standen sie mehr noch
als europäische Ritter unter Druck, Tapferkeit und
Kampfstärke unter Beweis zu stellen.
Und nachdem sie ihre Stellung in ihren Regimentern auch an ihre
Söhne weitervererbten, erfüllten sie alle Anforderungen
an einen Kämpferadel.
Keine Gruppe hat das Bild des feudalen Japan so nachhaltig
geprägt wie jene Krieger, die im Westen als "Samurai" bekannt
sind. In gewisser Weise erscheinen sie als das genaue Gegenteil der
arabischen Mamluken: waren letztere Sklaven mit der Macht von
Adligen, so waren die Samurai Adlige, die ihrem Herrn zu sklavisch
anmutendem Gehorsam verpflichtet waren. (Der einzige legitime Weg,
auf dem ein Samurai den Befehl verweigern durfte, bestand in
Seppuku.) Im Gegensatz zum europäischen Ritter besaß der
Samurai auch kein eigenes Land, sondern lebte von einem Salär,
das sein Herr ihm zahlte. Die Bindung nach oben war
außerordentlich stark.
Was aber war die Pflicht eines Samurai gegenüber dem einfachen
Volk?
Der Kodex des Samurai wurde von der Philosophie des Bushido
bestimmt. Dieser forderte sieben zentrale Tugenden: Gerechtigkeit,
Mut, Mitgefühl, Höflichkeit, Aufrichtigkeit, Ehre und
Treue. Vor allem aus Mitgefühl und Treue ergab sich die
Forderung nach Verantwortung für das einfache Volk: ein
Samurai sollte am Schicksal einfacher Untertanen Anteil haben und
seinen loyalen Gefolgsleuten selbst wiederum loyal sein.
Oberflächlich ergibt sich ein Bild, das dem des
europäischen Ritters als "Beschützer der Schwachen"
durchaus ähnelt. Doch gab es auch erhebliche Unterschiede. So
war ein Samurai zwar angehalten, Treue mit Treue zu lohnen, aber
auch, Untreue drakonisch zu bestrafen. Schon für eine simple
Beleidigung war ein Samurai von Gesetz wegen berechtigt, einen
Menschen von geringerem Stand sofort zu töten. (Allerdings
standen auch auf Missbrauch dieses Gesetzes harte Strafen bis hin
zum Tod.)
Inwiefern die gegenseitigen Verpflichtungen von Samurai und Volk im
Gleichgewicht standen, dürfte historisch stark geschwankt
haben. Fest steht aber, dass die Rolle der Samurai sich nicht in
der bloßen Machtausübung erschöpfte. In kaum einem
anderen Land der Welt waren die Pflichten des Kämpferadels so
klar definiert – auch und gerade dem Volk gegenüber.
Als im 16. Jahrhundert erstmals Europäer den Fuß nach
Südamerika setzten, war die aufstrebende, junge
Großmacht des Kontinents das Inkareich. Es umfasste ein
riesiges Gebiet, das sich von Kolumbien bis tief nach Chile und
Argentinien hinein an den Anden entlangzog.
Folglich bestand ein Großteil des Staatsgebiets aus
Hochgebirge: felsig, karg, mit extremen Jahreszeiten und unwegsamem
Gelände zwischen den fruchtbaren Tälern. Wie konnte ein
solches Land zu einer so reichen und mächtigen politischen
Einheit zusammengehalten werden?
Das Inkareich brachte einige erstaunliche technische Leistungen
zustande, u.a. ein erstklassiges Netz von Bergstraßen und das
Anlegen von Terrassen, um steile Hänge landwirtschaftlich zu
nutzen. Vor allem aber hatte es eine sehr fähige Verwaltung:
den Priester- und Beamtenadel der Kurakas, vom Sapa Inka
eingesetzte Provinzgouverneure, zu deren Aufgaben unter anderem die
Nahrungsmittelverteilung gehörte.
Gemäß dem Steuersystem des Inkareiches hatte jeder Bauer
ein Drittel seiner Erträge an den Kuraka abzugeben und ein
weiteres Drittel an den Sapa Inka, den obersten Herrscher.
Allerdings bedeutete das nicht etwa, dass Adel und Herrscher alles
für sich behielten; vielmehr war es Aufgabe der Kurakas, die
eingezogenen Lebensmittel zurück auf das Volk zu verteilen.
Auf diese Weise konnten Provinzen mit guter Ernte eventuelle
Missernten in anderen Landesteilen ausgleichen. Die Privilegien der
Kurakas legitimierten sich über die Verhinderung von
Hungersnöten.
Archäologische Funde belegen, dass sie diese Aufgabe
ausgesprochen effizient erledigten. Kein bislang exhumiertes
Skelett aus der Zeit des Inkareichs zeigte Anzeichen von
Mangelernährung – eine beachtliche Leistung unter den
Lebensbedingungen der Anden.
Die Ausbildung, um dieser Aufgabe gerecht zu werden, machte die
Kurakas zur intellektuellen Elite des Inkareichs. Und wie in jeder
Aristokratie war die Würde ihres Amtes erblich.
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