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Markus Gerwinski: Wissenschaftler

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[Titelgrafik: Adel verpflichtet]

Aus meiner Recherche
für Roman und Rollenspiel:

Adel verpflichtet

Ein historischer Überblick


"Adel verpflichtet" – Dieser Spruch ist heute eine verbreitete Redensart. Sie wird als moralische, aber nicht verbindliche Aufforderung aufgefasst, wenn man schon zur Oberschicht gehört, solle man auch was für das einfache Volk tun. Aber ist das wirklich alles, was sich dahinter verbirgt?

Im Zuge meiner Recherchen für diverse Projekte bin ich immer wieder auf ein Motiv gestoßen, das Oligarchie und Aristokratie voneinander unterscheidet. In einer Oligarchie beansprucht einfach eine kleine Gruppe die Macht für sich. Wenn sie sich überhaupt die Mühe macht, eine Rechtfertigung für diesen Anspruch zu formulieren, bleibt diese eher schwammig und kann schnell wechseln – ebenso wie die herrschende Gruppe selbst.

In jeder Staatsform aber, die sich offiziell als Aristokratie begriff und bezeichnete, hatte der Adel eine klar definierte Aufgabe, deren Erfüllung überprüfbar war und an der er vom Volk gemessen wurde.

Am häufigsten in Kulturen rund um den Erdball trifft man den Kriegeradel an. Die europäischen Ritter, die japanischen Samurai und die orientalischen Mamluken entstammten militärischen Traditionen. Von ihnen wurde erwartet, sich als Kämpfer zu beweisen. Tapferkeit und Kampfstärke waren Eigenschaften, mit denen die Würde eines Angehörigen dieser Klassen stand und fiel. Ein Mamluk, Samurai oder Ritter, der sich den Ruf der Feigheit einhandelte, verlor die Gefolgschaft seiner Untertanen und den Rückhalt unter seinesgleichen.

Aber dies war nicht die einzige Form von Adel. So war zwar die Aristokratie des römischen Imperiums eng mit dem Militär verflochten, wurde aber letztendlich an (klar festgelegten) Beiträgen zur Infrastruktur Roms gemessen. Und im Inkareich bestand die Kernaufgabe der Kurakas in der Verhinderung von Hungersnöten – im kargen Bergland der Anden eine schwere und verantwortungsvolle Aufgabe.

Im folgenden Artikel möchte ich mehr darüber erzählen, was Adel in verschiedenen Kulturen ausmachte. Stichwort: "Adel verpflichtet."


Teil 1: Senat und Volk von Rom

Aus heutiger Sicht mag es seltsam klingen, mit einer Geschichte über den Adel in einer Republik anzufangen. Und doch waren die Würdenträger dieser Republik genau das: Adlige. Das Volk durfte wählen, doch nur zwischen Abkömmlingen ehrenwerter, alter Familien. (Anfangs waren dies die Patrizier, doch gesellte sich später auch ein plebejischer Adel dazu.)

Bis auf gelegentliche Aufsteiger war die Zugehörigkeit zu dieser Oberschicht erblich. Worin aber bestand die Aufgabe, die der Adel erfüllte, damit das Volk ihm seine Macht zugestand?

Die Antwort gibt ein Blick auf den "Cursus Honorum", die vorgeschriebene Ämterkarriere eines römischen Würdenträgers. Um überhaupt zu dieser Laufbahn zugelassen zu werden, musste ein Römer zunächst in den Legionen gedient haben.

Danach konnte er für die Wahl zum Quästor kandidieren, anschließend zum Ädilen, zum Prätor und erst dann zum Konsul (Staatsoberhaupt). Jedes dieser Ämter war mit spezifischen Aufgaben verknüpft. Speziell den Ädilen unterstand u.a. der Unterhalt von Straßen, Aquädukten, Bädern ... und sie mussten vieles davon aus eigener Tasche finanzieren. Dass nur Adlige diese Laufbahn einschlagen durften, folgte somit der Logik: für die Infrastruktur bezahlen sollen diejenigen, die viel haben.

Die Bürger Roms merkten also unmittelbar am Zustand ihrer Straßen und Gebäude, ob ein Ädil seine Arbeit gut gemacht hatte – was nicht ohne Auswirkungen auf seine Chancen bei der Wahl zum Prätor gewesen sein dürfte.

Ein römischer Adliger war also sowohl ein Kämpfer als auch ein Beamter. Welche Rolle aber war aus Sicht des Volkes entscheidend?

Zwar brachte der Dienst in den Legionen Prestige mit sich, doch etliche Römer wurden Konsul, ohne sich im Feld sonderlich hervorgetan zu haben. Dies spricht dafür, dass die Römer ihren Adel hauptsächlich an seinem Dienst an der Infrastruktur gemessen haben. Bei aller Verflechtung mit dem Militär war der römische Adel also in erster Linie ein Beamtenadel.


Teil 2: von Rittern und Ehre

Nach Ende des römischen Imperiums dauerte es eine Weile, bis sich aus den Wirren der Völkerwanderung neue Kulturen erhoben. Eine davon, das Frankenreich, brachte einen Stand hervor, der in den kommenden Jahrhunderten Mitteleuropa prägen sollte wie kein anderer: das Rittertum.

Es waren unruhige Zeiten und um gegen die Nachbarn zu bestehen, führten die Karolinger ein System der allgemeinen Wehrpflicht ein. Jeder freie Bauer war zum Waffendienst an seinem Herrn verpflichtet. War der Bauer reich genug, um sich Streitross und Rüstung leisten zu können, dann leistete er diesen Dienst als Panzerreiter. Im Kriegsfall führte er die Bauern seines Dorfes an, im Frieden durfte er von ihnen Dienste und Abgaben einfordern – voilà: geboren war der europäische Feudalherr.

Von seinen Untertanen wurde ein Ritter folglich an seiner Aufgabe als Krieger und Anführer gemessen. Seine Privilegien rechtfertigten sich durch Erfüllung der Pflicht, seine Leute vor äußeren Feinden, Räubern, Dieben und gelegentlich auch Raubtieren zu schützen. Das Klischee vom Ritter als "Beschützer der Schwachen" hat also durchaus einen wahren Kern.

Die mittelalterlichen Ritter wiederum waren meist nur bereit, einem Anführer zu folgen, der selbst als Ritter zu kämpfen verstand. So durchzog das Bild des Panzerreiters bald den gesamten Adel von unten nach oben: Barone, Grafen, Herzöge, Könige, sie alle mussten im Regelfall den Ritterschlag erhalten haben, ehe sie in ihr Amt eingesetzt wurden. Der europäische Adel gründete seinen Herrschaftsanspruch darauf, die Elite der Kämpfer darzustellen.

Diese Geisteshaltung prägt das Selbstverständnis des europäischen Adels bis heute. Auch lange nach dem Zeitalter der Ritterheere wurde von Adligen erwartet, in den Armeen ihrer Monarchen als Offiziere zu dienen. Noch heute ist es auf unserem Kontinent üblich, dass Thronfolger zu Berufssoldaten ausgebildet werden. Der europäische Adel definiert sich ganz klar als Kämpferadel.


Teil 3: Unsere islamischen Nachbarn

Vor die größten Rätsel meiner Recherche stellte mich der reichhaltige, komplexe Kulturraum des Islam. Verschmolzen aus den Traditionen des antiken Persien sowie arabischer und turkmenischer Stämme, vereint er sehr unterschiedliche altehrwürdige Herrscherfamilien mit einer lebhaften Dynamik neu entstehender und vergehender Dynastien.

Vieles deutete darauf hin, dass die Rolle des Adels im mittelalterlichen Orient die eines Kämpferadels war. Emire und Beys waren als Provinzgouverneure in erster Linie militärische Befehlshaber. Es schien eine Adelshierarchie zu geben, die dem europäischen Feudalsystem ähnelte. Trotzdem gelang es mir nicht, eine spezifische Pflicht ausfindig zu machen, an deren Erfüllung die islamische Aristokratie von ihrem Volk gemessen wurde.

Es dauerte eine Weile, bis ich den Grund dafür erkannte:

Die Aristokratien islamischer Reiche bestanden nicht aus dem nominellen Adel, sondern aus Sklaven.

Am bekanntesten sind heute die Regimenter der Mamluken und Janitscharen. Beide setzten sich aus Sklaven zusammen, die von Kindheit an zu Elitekämpfern ausgebildet wurden. Als Rückgrat der Heere ihrer Monarchen erlangten sie enormen Einfluss, wurden zu den wahren Machthabern hinter dem Thron und gründeten teilweise ihre eigenen Reiche.

Die noblen Emire, Beys und Paschas waren lediglich Statthalter, die von ihrem Monarchen eingesetzt worden waren. Sie besaßen keine Souveränität und waren nur ihrem Herrscher verpflichtet, nicht aber dem Volk.

Mamluken oder Janitscharen hingegen erlangten ihre Position allein aufgrund ihrer Fähigkeiten als Krieger. Offiziell stand ihnen keinerlei Macht zu. Um ihren Einfluss zu behaupten, mussten sie militärische Erfolge vorweisen. Daher standen sie mehr noch als europäische Ritter unter Druck, Tapferkeit und Kampfstärke unter Beweis zu stellen.

Und nachdem sie ihre Stellung in ihren Regimentern auch an ihre Söhne weitervererbten, erfüllten sie alle Anforderungen an einen Kämpferadel.


Teil 4: Der Weg des Samurai

Keine Gruppe hat das Bild des feudalen Japan so nachhaltig geprägt wie jene Krieger, die im Westen als "Samurai" bekannt sind. In gewisser Weise erscheinen sie als das genaue Gegenteil der arabischen Mamluken: waren letztere Sklaven mit der Macht von Adligen, so waren die Samurai Adlige, die ihrem Herrn zu sklavisch anmutendem Gehorsam verpflichtet waren. (Der einzige legitime Weg, auf dem ein Samurai den Befehl verweigern durfte, bestand in Seppuku.) Im Gegensatz zum europäischen Ritter besaß der Samurai auch kein eigenes Land, sondern lebte von einem Salär, das sein Herr ihm zahlte. Die Bindung nach oben war außerordentlich stark.

Was aber war die Pflicht eines Samurai gegenüber dem einfachen Volk?

Der Kodex des Samurai wurde von der Philosophie des Bushido bestimmt. Dieser forderte sieben zentrale Tugenden: Gerechtigkeit, Mut, Mitgefühl, Höflichkeit, Aufrichtigkeit, Ehre und Treue. Vor allem aus Mitgefühl und Treue ergab sich die Forderung nach Verantwortung für das einfache Volk: ein Samurai sollte am Schicksal einfacher Untertanen Anteil haben und seinen loyalen Gefolgsleuten selbst wiederum loyal sein.

Oberflächlich ergibt sich ein Bild, das dem des europäischen Ritters als "Beschützer der Schwachen" durchaus ähnelt. Doch gab es auch erhebliche Unterschiede. So war ein Samurai zwar angehalten, Treue mit Treue zu lohnen, aber auch, Untreue drakonisch zu bestrafen. Schon für eine simple Beleidigung war ein Samurai von Gesetz wegen berechtigt, einen Menschen von geringerem Stand sofort zu töten. (Allerdings standen auch auf Missbrauch dieses Gesetzes harte Strafen bis hin zum Tod.)

Inwiefern die gegenseitigen Verpflichtungen von Samurai und Volk im Gleichgewicht standen, dürfte historisch stark geschwankt haben. Fest steht aber, dass die Rolle der Samurai sich nicht in der bloßen Machtausübung erschöpfte. In kaum einem anderen Land der Welt waren die Pflichten des Kämpferadels so klar definiert – auch und gerade dem Volk gegenüber.


Teil 5: Im Namen des Inka

Als im 16. Jahrhundert erstmals Europäer den Fuß nach Südamerika setzten, war die aufstrebende, junge Großmacht des Kontinents das Inkareich. Es umfasste ein riesiges Gebiet, das sich von Kolumbien bis tief nach Chile und Argentinien hinein an den Anden entlangzog.

Folglich bestand ein Großteil des Staatsgebiets aus Hochgebirge: felsig, karg, mit extremen Jahreszeiten und unwegsamem Gelände zwischen den fruchtbaren Tälern. Wie konnte ein solches Land zu einer so reichen und mächtigen politischen Einheit zusammengehalten werden?

Das Inkareich brachte einige erstaunliche technische Leistungen zustande, u.a. ein erstklassiges Netz von Bergstraßen und das Anlegen von Terrassen, um steile Hänge landwirtschaftlich zu nutzen. Vor allem aber hatte es eine sehr fähige Verwaltung: den Priester- und Beamtenadel der Kurakas, vom Sapa Inka eingesetzte Provinzgouverneure, zu deren Aufgaben unter anderem die Nahrungsmittelverteilung gehörte.

Gemäß dem Steuersystem des Inkareiches hatte jeder Bauer ein Drittel seiner Erträge an den Kuraka abzugeben und ein weiteres Drittel an den Sapa Inka, den obersten Herrscher. Allerdings bedeutete das nicht etwa, dass Adel und Herrscher alles für sich behielten; vielmehr war es Aufgabe der Kurakas, die eingezogenen Lebensmittel zurück auf das Volk zu verteilen. Auf diese Weise konnten Provinzen mit guter Ernte eventuelle Missernten in anderen Landesteilen ausgleichen. Die Privilegien der Kurakas legitimierten sich über die Verhinderung von Hungersnöten.

Archäologische Funde belegen, dass sie diese Aufgabe ausgesprochen effizient erledigten. Kein bislang exhumiertes Skelett aus der Zeit des Inkareichs zeigte Anzeichen von Mangelernährung – eine beachtliche Leistung unter den Lebensbedingungen der Anden.

Die Ausbildung, um dieser Aufgabe gerecht zu werden, machte die Kurakas zur intellektuellen Elite des Inkareichs. Und wie in jeder Aristokratie war die Würde ihres Amtes erblich.


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